Polizeiliche Fallanalyse ist mehr als Profiling

Wie Fallanalytiker im LKA Niedersachsen arbeiten


 
9 Uhr morgens. Eine Kleinstadt in Niedersachsen. Tatortbesichtigung in einem Einfamilienhaus. Auf den ersten Blick ein von außen unauffälliges Objekt. Doch hinter den Mauern hat sich eine brutale Tat ereignet. Hans Hermann (Name geändert) wurde erschlagen im Keller seines Hauses gefunden. Das Motiv ist unklar, vom Täter fehlt noch jede Spur.

Die Mordkommission hat die Operative Fallanalyse (OFA) des LKA Niedersachsen um Unterstützung gebeten. Carsten Schütte und sein Team machen sich am Tatort ein Bild. Dieser Termin ist der Einstieg in den umfangreichen Prozess einer Fallanalyse: Wie ist der Täter in das Gebäude gelangt? Wie sind die zahlreichen schweren Verletzungen zu erklären? Wie hat sich die Tat abgespielt? Warum musste das Opfer sterben? Das sind nur einige Fragen, die Fallanalytiker beschäftigen.

Seit 1999 analysiert die OFA des LKA Niedersachsen schwere Gewalttaten, meist Tötungs- und Sexualdelikte. Carsten Schütte leitet das Sachgebiet „Operative Fallanalyse“. Im Interview erklärt der Kriminalhauptkommissar, wie Fallanalytiker arbeiten und vorgehen.

Carsten, seid ihr das, was in den amerikanischen Serien als Profiler bezeichnet wird?

Leider ist das nicht mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Wie aus dem Begriff „Profiling“ abzuleiten ist, geht es hierbei um die Erstellung eines Profils – also, welche Aussagen über den Täter getroffen werden können. Tatsächlich geht die Arbeit eines polizeilichen Fallanalytikers deutlich darüber hinaus und die Erstellung des Täterprofils ist lediglich ein möglicher Arbeitsschritt. Für die sachbearbeitenden Dienststellen stehen jedoch häufig andere Fragen im Vordergrund. Etwa: Was ist hier konkret passiert? Wie war der Tatablauf? Wo sind Spuren des Täters - neben den offensichtlichen - zu erwarten? Wohin hat der Täter die Leiche gebracht? Oder die Frage, ob es verbindendende Elemente zu anderen Taten gibt. Der Begriff „Profiling“ beschreibt somit nur einen Teilbereich unserer Arbeit. Wir Fallanalytiker betrachten die Tat mit einem möglichst ganzheitlichen Blick. Wir wollen helfen, den Fall zu verstehen und seine charakteristischen Elemente zu erkennen.

Ihr beratet mit eurem Team Mord- und Sonderkommissionen. In welchen Fällen wird die OFA hinzugezogen?

Das sind in erster Linie die Deliktsbereiche, für die das BKA die fallanalytische Methodik entwickelt hat, nämlich Tötungs- und sexuell motivierte Gewaltdelikte. Wir haben die Methodik allerdings auch schon in anderen Deliktsbereichen wie Raub- und Brandserien eingesetzt. Insbesondere bei komplexen oder ungewöhnlich erscheinenden Taten ist ein vertieftes Fallverständnis von großer Bedeutung.

Wann steigt euer Team in einen Fall ein?

Das ist ganz unterschiedlich und vom Auftrag der sachbearbeitenden Dienststelle abhängig. Während die OFA noch vor einigen Jahren vorrangig retrograde Fallanalysen, das heißt bei abgeschlossenen Ermittlungen oder gar bei lang zurückliegenden sogenannten cold cases, durchgeführt hat, kommt es heute vermehrt zu fallbegleitenden Fallanalysen. Wir steigen somit sehr früh, noch in der heißen Phase, in den Fall ein und haben damit bereits gute Erfahrungen gemacht.

Wie muss man sich eure Arbeit konkret vorstellen?

In der Regel beginnt unsere Arbeit mit der Tatortbesichtigung und einer intensiven Informationserhebung aus der Aktenlage. Auf Basis der objektiven Spurenlage, das heißt anhand der gesicherten Spuren vom Tatort, der Verletzungen am Opfer sowie Grundinformationen zum Opferbild versuchen wir, die Tat zu rekonstruieren. Wir bringen die Tathandlungen in eine nachvollziehbare, chronologische Abfolge und bilden Hypothesen zum Tathergang. Um den Handlungsverlauf besser nachvollziehen zu können, stellen wir häufig entscheidende Szenarien - möglichst unter realen Bedingungen - nach. Diese plastische Darstellung hat oft schon zielführende Erkenntnisse gebracht.

Wie viel Zeit nimmt eine Fallanalyse in Anspruch?


Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. In einer aktuellen, fallbegleitenden Analyse oder sogenannten vergleichenden Fallanalyse von Serienmorden oder –vergewaltigungen können wir die Moko/Soko über Monate oder gar Jahre begleiten. So haben wir zum Beispiel die Soko Levke (Tötung der beiden Kinder Levke S. und Felix W.) anderthalb Jahre begleitet. Eine klassische Fallanalyse nimmt inklusive Vorbereitung, Präsentation und Protokollerstellung mehrere Wochen in Anspruch.

Warum ist die Rekonstruktion eines Tathergangs so wichtig?

Dieser rekonstruierte Tatablauf ist die Basis für weitere Rückschlüsse auf das Verhalten des Täters, die Motivstruktur und die Täterpersönlichkeit. Erst wenn wir nachvollziehbar beschreiben konnten, welches Täterverhalten in welcher Reihenfolge stattgefunden hat, lassen sich beispielsweise Rückschlüsse auf Persönlichkeit, Erregungszustand, Stresslevel und Fähigkeiten des Täters ziehen.

Wie geht es nach der Tatrekonstruktion weiter?


Wir versuchen, das vom Täter gezeigte Tatverhalten möglichst genau und in der rekonstruierten Abfolge zu bewerten. Um es an einem Beispiel zu erklären: Man stelle sich die Zeugenaussage eines Vergewaltigungsopfers vor. Das Opfer weist Gesichtsverletzungen von stumpfer Gewalt auf und erklärt, wiederholt vom Täter geschlagen worden zu sein. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, warum der Täter geschlagen hat. Ging es darum, das Opfer gefügig zu machen und unter Kontrolle zu bringen? Oder wurde der Täter gewalttätig, als das Opfer um Hilfe gerufen hat? Oder hat der Täter ohne vorerst erkennbaren Grund geschlagen? Die Bewertung seines Verhaltens wäre doch bei jedem Beispiel unterschiedlich. An dieser Stelle würden wir diskutieren, ob die Gewaltanwendung funktional, reaktiv oder aggressiv, möglicherweise sogar sadistisch motiviert erfolgte. Die Art und Weise von Gewaltausübung lässt somit unter Umständen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit und das Motiv des Täters zu. Es lohnt sich auf jeden Fall, die Details zu betrachten. Bei unserer fallanalytischen Arbeit fließen auch Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien und Befunden ein.

Gibt es Beispiele dafür, wie sich die Erkenntnisse aus einer durchgeführten Fallanalyse konkret auf das laufende Ermittlungsverfahren ausgewirkt haben?

Wir konnten bereits mehrmals aus den Rekonstruktionen neue Spurenlagen aufzeigen, die noch nicht im Fokus standen. Zum Beispiel ließ sich nach einer Tathergangsrekonstruktion an einem sehr blutigen Tatort eine Blutspur identifizieren, die nicht vom Opfer, sondern vom verletzten Täter hinterlassen wurde. Nach priorisierter Untersuchung dieser Spur konnte so der Täter ermittelt werden.

Aus hergeleiteten Tathandlungen konnten wir zudem in einigen Fällen Mordmerkmale, wie zum Beispiel ein nicht offensichtlich erkennbares sexuelles Motiv erarbeiten. Diese Erkenntnisse haben in der Folge dann zu entsprechenden Verurteilungen beigetragen.

Somit kann unsere Arbeit – ganz praxisbezogen – sowohl Auswirkungen auf die kriminaltechnische Beweiserhebung haben als auch für die spätere juristische Bewertung von Bedeutung sein.

Wie wichtig ist der Tatort für eure Arbeit? Denn ihr unterstützt ja auch bei älteren, ungeklärten Fällen.

Neben der Bedeutung des Tatortes als Handlungsort und somit als Spurenraum sind die Wahrnehmungen an diesem Ort oftmals von enormer Wichtigkeit. Was konnte der Täter hören oder sehen? Konnte er das Opfer von weitem schon beobachten? Gibt es Hinweise, ob der Täter den Tatort bewusst oder eher zufällig gewählt hat? Das sind nur einige von vielen Fragen, die wir uns zum Tatort stellen. Und da man mit allen Sinnen besser wahrnehmen kann als nur visuell über Lichtbilder, versuchen wir vor jeder Fallanalyse den Tatort aufzusuchen. Dabei spielt es keine Rolle, wie lange die Tatzeit schon zurückliegt. Wenn möglich, rekonstruieren wir die Tathandlung am Originaltatort zur mutmaßlichen Tatzeit. So haben wir zum Beispiel das Tötungsdelikt im NP-Markt in Hannover-Stöcken vor Ort - aus nachvollziehbaren Gründen nach der Öffnungszeit - rekonstruiert. Diese Rekonstruktionen werden in der Regel auch für die sachbearbeitende Dienststelle und das Gericht foto- und/oder videografisch dokumentiert.

Die Fallanalyse ist ein kriminalistisches Werkzeug. Wird sie in der Regel ausschließlich von Kriminalbeamten ausgeübt oder wie sieht ein solches Analyseteam aus?

Grundsätzlich sind drei ausgebildete Fallanalytiker im Team, wobei wir immer gern auch Kollegen aus der Moko/Soko als Teilnehmer einladen. Für den interdisziplinären Blick haben wir oftmals Unterstützung von Wissenschaftlern. Das können beispielsweise Psychologen, Rechtsmediziner oder Forensiker sein. Hier haben wir über die Jahre ein gut funktionierendes Netzwerk aufgebaut. Eine unserer OFA-Kolleginnen ist außerdem studierte Sozialwissenschaftlerin. Aus personellen Gründen sind wir auch häufig auf die Unterstützung anderer OFA-Einheiten angewiesen. Es ist üblich, sich bundesweit gegenseitig zu unterstützen.

Wie sieht die Ausbildung zum Fallanalytiker aus?


Die in mehrere Module untergliederte Ausbildung erfolgt sowohl hier im LKA als auch zu großen Anteilen im BKA. Zusätzlich müssen Hospitationen bei OFA-Einheiten anderer Bundesländer absolviert werden. Der Ausbildungsgang zum polizeilichen Fallanalytiker dauert etwa vier bis fünf Jahre. Neue Kolleginnen und Kollegen werden bei uns aber von Anfang an im gesamten Aufgabenspektrum eingebunden.


Kontakt zur OFA Niedersachsen:

LKA Niedersachsen
Dezernat 31.1
– Operative Fallanalyse (OFA) / ViCLAS –
Am Waterlooplatz 11, 30169 Hannover
Tel: 0511-9873-0 (Vermittlung)

Artikel-Informationen

erstellt am:
10.08.2018
zuletzt aktualisiert am:
30.11.2022

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